Die Chinesische Mauer--Entstehung


Sie können Biographie von Frisch, EntstehungInhaltsangabe, Interpretation und Analyse von Personen und Fragen zu Die Chinesische Mauer lesen. 

China und die Chinesische Mauer kannte Max Frisch nicht persönlich. Als er  Die Chinesische Mauer schrieb, war er noch nie in China gewesen. Die Namen der Chinesen und Orte in China lernte Max Frisch nur in Europa kennen.  Als er das Stück in der Hauptprobe zum erstenmal sah, wurde er von einem Schock ergriffen: "Du kommst nach China, wo du noch nie gewesen bist, kommst auf einen öffentlichen Platz, wo viele Chinese stehen, und schaust einem Tänzer zu, dessen Getue dich teilweise verwundert oder gar erzückt, teilweise auch ekelt,  und alle sagen, dieser Tänzer bist du. Niemand anders als du!  Im Augenblick, wo ich es zwar nicht begreife, aber glaube, hinnehme und zugebe, begreife ich überhaupt nicht mehr, was da gespielt wird, keinen Satz, keine Szene, alles Fremdsprache, keine Ahnung, ob es etwas heißt." (Ebd.) Hier sprach Frisch von dem Zauber, den er als Dramatiker erzeugt hatte und der ihm selbst  plötzlich doch als so fremd erschien. Er wurde von seiner eigenen Kunst überwältigt. 

Der schockierende Effekt, den Frisch selbst empfand, wird oft als grotesk bezeichnet. Dieser Effekt kommt zweifellos von der farcenhaften Eigenschaft dieses Stückes. Es ist diese Eigenschaft, die es ermöglicht, dass Hitler als ein Gast bei der Eröffnungsfeier der Chinesischen Mauer erscheint, ein heutiger Intellektueller sich mit Napoleon, Brutus, Don Juan und Columbus unterhält, und Cleopatra sich am chinesischen Kaiser lehnt. Dieses Spiel mit der Zeit überrascht und zugleich entzückt die Zuschauer. In diesem Sinne ist sehr modern. Es wäre aber verfehlt, Frischs Bezeichnung "Farce" im Sinne der mittelalterlichen Farcen zu verstehen, die die Unterhaltung der Zuschauer beabsichtigten, wobei überhaupt nichts ernst zu nehmen war. Im Gegenteil, dieser Farce ist in vollem Ernst. Die Farce ist eine Maske der Ironie, oder "ein fürchterlicher Zerrspiegel", wie Frisch sie selbst bezeichnet. Sie zeigte die menschlichen Schwächen als fremd, damit sie mit der Distanz von außen betrachtet wird. Die Farce ist auf der anderen Seite nur ein Maskenball, eine Parade der Masken, die entlarvt werden müssen.

Im Mai und Juni 1946 besuchte Max Frisch das kriegszertrümmerte Deutschland. Das tat er nach dem Krieg zum erstenmal seit 1939. Sein Eindrücke waren unvergesslich: überall Ruinen und Flüchtlinge in den Städten. Am 1. und 25. Juli 1946 explodierte erfolgreich zwei Atombomben auf Bikini im westlichen Pazifik. Solche Verbindung von weltpolitischen Ereignissen und persönlichen Erlebnissen zeigte ihm, wie schutzlos der Frieden war. Die Chinesische Mauer wurde im Herbst 1946 geschrieben und am 10. Oktober desselben Jahres im Züricher Schauspielhaus uraufgeführt. Die dringende Botschaft dieses Stücks wurde von den nachherigen Weltereignisse bestätigt und unterstrichen. Kriege wurden weitergeführt, wenn nicht in Europan, doch schon in Asien (China) und Afrika. Die Betonmauern trennten Großstädte wie Jerusalem und Berlin. Als er an diesem Stück arbeitete, hinterließ er in seinem Tagebuch manche Spuren des Stückes, die uns jetzt die Entstehung des Stückes beleuchten. Im Tagebuch heißt es: "In allen Zeitungen findet man die Bilder von Bikini. Etliche Stunden, nachdem die Atombombe losgegangen ist, steht der Rauch wie ein schwarzer Blumenkohl. Diesmal ist es nur eine Hauptprobe. Auch die Palmen stehen noch. Aber das alles, kein Zweifel, wird sich verbessern lassen, und der Fortschritt, der nach Bikini führte, wird auch den letzten Schritt noch machen: die Sintflut ist herstellbar. Das ist das Großartige: wir können, was wir wollen, und es fragt sich nur noch, was wir wollen; am Ende unseres Fortschrittes stehen wir da, wo Adam und Eva gestanden haben; es bleibt uns nur noch die sittliche Frage." (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949) 

Es leuchtet ein, dass diese Bemerkung sich beinahe wörtlich mit der Warnung des Heutigen an Napoleon und Hwang Ti im Schauspiel vergleicht. Interessanterweise gehört das zu zahlreichen Äußerungen, die mehr oder weniger wörtlich sowohl im Tagebuch also auch im Stück erscheinen. Sie zeigen, dass dieses Stück als eine Reaktion auf das weltpolitische Ereignis der Atombombe von Bikini geschrieben wurde. "Das Atom ist teilbar", so wiederholt der Heutige den geschichtlichen Machthabern, Napoleon und Hwang Ti gegenüber. Das Stück ist eine verzweifelte Warnung vor den Gefahren des Atomzeitalters und zugleich eine hoffnungslose und nüchterne szenische Vision von der Ohnmacht und Unzulänglichkeit des Denkens und der Literatur.

Kein Wunder, dass Frisch kehrte zu diesem Stück an wichtigen Anlässen: 1955 bearbeitete Frisch dieses Stück und dabei trennte er die Rolle von Min Ko von der des Heutigen. Zugleich ersetzte Frisch manchen Text der Masken durch literarische Zitate. Mit diesen Veränderungen verstärkte Frisch seinen Pessimismus hinsichtlich der Rolle der Intellektuellen und der Literatur und des Theaters in der Veränderung der Welt. Damit stellte Frischs Pessimismus der optimistischen Meinung Brechts, dass die Welt sich verändert werden könne, gegenüber. Die bearbeitete Fassung wurde dann auch in Berlin aufgeführt. 1965 fertigte er eine bearbeitete Fassung für die Aufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg an. Diese Fassung wurde aber nie veröffentlicht. In der letzten Fassung von 1972, die er aufgrund der Hamburger Fassung für die Aufführung in Paris weiter bearbeitete und als Pariser Fassung nannte, strich Frisch  das Liebesthema zwischen dem Heutigen und der Mee Lan (das letzte Bild--Bild 24) weg. Damit sollte das Publikum sich auf die politischen und moralischen Fragen konzentrieren. Unser Kurs benutzt diese Fassung.

"Es gibt sogenannte aktuelle Bühnenstücke, die keinen Winter überdauern. In anderen steckt ein Kern und ein Sinn, die ihr Weiterleben nicht nur rechtfertigen, sondern wünschenswert machen. Zu ihnen gehört Max Frischs Chinesische Mauer." (Neue Zürcher Zeitung) Der Grund dafür liegt sowohl in der allgemein menschlichen Thematik als auch in der Anwendung vielfältigen dramatischen und theatralischen Dramatik, die typisch für das moderne Theater sind.